SPIEGEL KLEIDERSCHRANK
SPIEGEL KLEIDERSCHRANK

SPIEGEL KLEIDERSCHRANK


Hemd
ZEIGE MIR DEINE KLAMOTTEN,
UND ICH SAGE DIR
WER DU GLAUBST ZU SEIN.

Beim Blick in meinen Kleiderschrank stelle ich fest, dass ich viel zu viele Klamotten habe. Es ist ein farblich formelles Durcheinander, das von einer gewissen Funktion abgesehen dafür herhalten muss, meiner Umwelt jeden Tag Aufschluss darüber zu geben, wer ich bin, wofür ich stehe und wie ich mich fühle.

 

KOMMUNIKATION UND IDENTIFIKATION

Kleidung ist ein Kommunikations- und ein Identifikationsmittel, ob ich mich täglich anders anziehe oder jeden Tag in den selben Klamotten rumlaufe, wie die Sadhus auf Indiens Straßen, die ihr Leben als Bettelmönche in ein oranges Tuch gehüllt führen. Ihr auffälliges Gewand sagt den Menschen schon von weitem, für welchen Lebensstil sie sich entschieden haben.

Wer mal in den Spiegel gucken will, tiefer als nur auf die Oberfläche seines Körpers, kann einmal genauer in seinen Kleiderschrank gucken und herausfinden, welche Personen sich da so aktuell verstecken und welche in den Tiefen des Schrankes verborgen sind. Vielleicht kann man auch entdecken, welche Person vor fünf oder zehn Jahren darin gewohnt haben und ob es noch dieselbe ist.

Der Kleiderschrank ist ein Spiegel unserer Selbstwahrnehmung. Unser jeweiliges Erscheinungsbild und damit der Inhalt unseres Kleiderschrankes passen sich im Laufe der Zeit den sich ändernden Meinungen und Überzeugungen unserer Person an.

Obwohl ich bei meinem letzten Umzug schon großzügig Teile meines Kleiderdepots ausgemistet, verschenkt und gespendet habe, füllen immer noch oder schon wieder zahllose Stücke die knapp 2 Kubikmeter meines Schrankes. Welche Personen gibt er im Moment her? Nach meinem dreimonatigen Ausflug nach Südindien bilden traditionelle, kunstvoll verzierte Stehkragenhemden in kurz und lang die hippe Cheerleadergang der Klamottenklasse, gefolgt von Funktionskleidung für Yogalehrer und –praktizierende in einschlägigen Farben, weiß und gelb. Nach Schwarz-Gothic-Düsterteilen muss ich schon tiefer graben, die Häute des Vertriebler-Medien-Fuzzis hängen seit einem Jahr unangetastet auf der Stange im Nebenschrank und warten auf Gelegenheit, wieder durch die Welt spazieren zu dürfen, genauso wie ein Trainingsanzug, der nur wenige Male das Innere eines Box-Centers gesehen hatte. Anscheinend gibt es einige Teile meiner Persönlichkeit, von der ich mich nicht oder noch nicht trennen möchte.

Aber es ist nicht nur das was sondern auch das wie viel, das etwas über die eigene Person aussagt. Ich finde Jacken über Jacken. Windjacken, Übergangsjacken, Ski-Jacken, Segel-Jacken, Lederjacken, unzählige Lederjacken, lange, kurze, schwarze, braune, blaue, grüne, Mäntel in allen erdenklichen Formen und Farben. Ich könnte damit eine ganze Fußballmannschaft über den Winter bringen. Getragen habe ich davon im letzten Winter genau eine. Dasselbe Spiel mit Hosen, Hemden und Pullovern, Socken und Unterwäsche. Und Schuhe, mein Schuhregal beherbergt alles, was man sich nur vorstellen kann. Gummistiefel, Bergsteigerschuhe, Wanderschuhe in hoch, Wanderschuhe in tief, Stiefel, Stiefeletten jeweils in grob und in elegant, Badelatschen, Sneaker in hoch und tief in orange, blau, grün, gelb, bunt, rot mit drei Streifen, mit Katzen drauf oder geschwungenem Bogen, die Lack- und Schnöselschuhe nicht zu vergessen, die zur Sicherheit aufgedruckt haben, was sie ausdrücken sollen.

SICHERHEITSSTREBEN

Hier offenbart sich ein weiterer Aspekt, der bei der Bestückung unseres Kleiderschrankes mitspielt. Der Drang danach, sich abzusichern, gewappnet zu sein, für jede mögliche Wendung im Außen aber auch im Inneren, die da kommen möge. Aber wie groß können die Wendungen schon sein, die uns heimsuchen und überraschen könnten, und in welcher Schlagzahl erscheinen sie? Ist es zu erwarten, dass ab morgen alle Geschäfte schließen werden und eine mehrjährige Eiszeit ausbrechen wird? Gut vorbereitet darauf wäre ich jedenfalls.

So stehe ich nun heute Morgen vor dieser bunten Ansammlung von Identitäten, Informationsschildern und Sicherungsmaßnahmen und habe den unbändigen Drang, auszumisten. Was sagt mir das wohl über meine Selbstwahrnehmung?

NEUES ICH

So bereitwillig wie wir uns von alten Klamotten trennen, geben wir nach und nach auch die Personen auf, die wir einst glaubten zu sein. Von Zeit zu Zeit lieben wir es, uns neu zu erfinden. Wenn das so ist, warum kämpfen wir dann in der Gegenwart so erbittert darum, unsere aktuelle Person gegen alles was von ihr abweicht zu verteidigen und zu behaupten, kämpfen um ihr Recht? Warum fällt es uns so schwer, unsere Person als das anzunehmen was sie ist. Ein zeitlich begrenztes Sammelsurium aus Erfahrungen, sich ändernden Vorlieben, Abneigungen und Meinungen und Überzeugungen. Was interessiert mich mein Gequatsche von gestern? Genau! Was interessiert mich mein Gequatsche von heute!? Das fragt kaum jemand.

Jede Überlegung führt mich unausweichlich zur Frage, wer bin ich wirklich, wenn nicht die verschiedenen sich ändernden Personen, die durch mein Leben und meinen Kleiderschrank ziehen? Können wir unser eigentliches Selbst neu erfinden oder ist es nicht einfach da, immer gleich, egal welches Kleidungsstück unseren Körper ziert?

Es ist gut und richtig. Wir identifizieren über die Kleidung Menschen, die zu unserem gegenwärtigen Bewusstseinszustand passen. Nichts ist anstrengender, als von Menschen umgeben zu sein, die einen gänzlich anderen Film fahren. Aber nichts kann einem mehr Inspiration bringen. Einen schönen Tag und viel Freude beim Betrachten Deines Kleiderschrankinhaltes.